Wenn es um die Frage nach der gesundheitsförderlichen Schulkultur geht, betritt man fast philosophischen Boden. Denn hier soll bedacht werden, von welchen Grundannahmen die Beziehungen der Personen in der Schule und das pädagogische Selbstverständnis der Schule geprägt ist. Die folgende Auflistung gibt einen Überblick über die Punkte, um die es dabei geht.
Wie sieht die Schule sich selbst und ihre Umwelt?

Merkmale der schulischen Organisationskultur (1):

  • Das Verhältnis der Menschen zur Natur: Betrachten Schlüsselmitglieder der Schule das Verhältnis der Schule zu ihrer Umwelt als eines der Dominanz, der Unterwerfung, des Harmonisierens, als eine Suche nach der passenden Nische oder als ganz etwas Anderes?
  • Das Wesen von Realität und Wahrheit: Die Sprach- und Verhaltensregeln, die definieren, was als wirklich gilt und was nicht. Was gilt als "Tatsache"? Wie wird letztlich Wahrheit bestimmt, konsensual oder ist sie zu "entdecken"? Was sind die grundlegenden Konzepte von Raum und Zeit?
  • Das Wesen des Menschen: Was bedeutet es, "menschlich" zu sein? Welche Eigenschaften werden als immanent oder grundsätzlich betrachtet? Ist das menschliche Wesen gut, böse oder neutral? Sind Menschen vervollkommnungsfähig oder nicht?
  • Das Wesen der menschlichen Aktivität: Was ist das "richtige" Verhalten des Menschen in Bezug auf die obigen Annahmen über die Wirklichkeit, die Umwelt und das Wesen des Menschen? Ist der Mensch aktiv oder passiv, entwickelt er sich selbst, ist er fatalistisch, oder etwas Anderes? Was gilt als Arbeit und was als Spiel?
  • Das Wesen von menschlichen Beziehungen: Was wird für Menschen als die "richtige" Art und Weise betrachtet, miteinander umzugehen, Liebe und Macht zu praktizieren? Ist das Leben kooperativ oder kompetitiv? Ist es eher individualistisch oder findet es gemeinschaftlich bzw. im Gemeinwesen statt? Basiert es auf traditionell überkommener Autorität, dem Gesetz, auf Charisma oder auf etwas anderem?

Sich mit solchen Fragen zu beschäftigen ist mehr als nur eine Gedankenspielerei. Denn welche Grundauffassungen von Schule eine Lehrerin oder ein Lehrer hat, bestimmt mit, wie sie/er mit den Menschen in der Schule umgeht. Diese Grundauffassungen spiegeln sich im Verständnis von Schule, in den erziehungsleitenden Vorstellungen und in den berufsethischen Orientierungen wider.

Aus der Sicht der Gesundheitsförderung ist eine demokratische Schulkultur zu fordern. Denn das Ziel, Selbstbestimmung über die Bedingungen der eigenen Gesundheit zu ermöglichen, kann nur in einem Klima erreicht werden, dass selbst partnerschaftlich bzw. sozialintegrativ ausgerichtet ist. Die Methoden müssen mit dem Ziel kompatibel sein, sonst läuft die Gesundheitsförderung in der Schule Gefahr, unglaubwürdig zu werden.

Zu den Kernbereichen einer demokratisch ausgerichteten Schulkultur zählt die "partnerschaftliche Gestaltung des Verhältnisses "Lehrer-Schüler", die Erziehungspartnerschaft von "Elternhaus und Schule" und die auf der Basis partnerschaftlicher Kooperation erfolgte Konsensbildung der Lehrer untereinander wie auch mit Eltern und Schülern" (2).

Elemente eines auf fairen Umgang ausgerichteten Grundkonsens hat Aurin (3) in elf Punkten festgehalten. Sie können auch als Qualitäten eines gesundheitsförderlichen Schulkulturansatzes betrachtet werden, weil sie konsensfördernde Kooperation mit verwirklichter Partnerschaft einschliessen. Diese Elemente sind in in der folgenden Auflistung zusammengefasst.
Elemente einer demokratischen Schulkultur (4)

  • "Prinzipielle Anerkennung der Tatsache, dass es in Kollegien - und ebenso darüber hinaus bei Eltern und Schülern - unterschiedliche Zugänge zum Verständnis von Schule und ihrer zentralen Aufgabenfelder gibt. Daraus resultieren Auffassungen und Verständnisse, die einen Sachkern haben und die auf Grund der unterschiedlichen Form von Betroffenheit, Engagement und Bedeutung jeweils eine charakteristische moralische Dimension aufweisen.
  • Einvernehmen darüber, dass die unterschiedlichen Auffassungen oder Verständnisse schulischer Aufgaben und Gestaltungsbereiche zur Lebendigkeit der geistigen Auseinandersetzung beitragen. Die Pluralität geistiger Auseinandersetzung im Kollegium muss gewährleistet sein; sie darf nicht mit Beiläufigkeit verwechselt werden. Vielfältige Vorstellungen müssen nicht zwangsläufig zum Zerreden pädagogischer Bemühungen führen; vielmehr können sie angesichts der Vielzahl schulischer Aufgaben und Ziele und der Komplexität von Unterricht und Schulleben beim Suchen nach angemessenen Lösungen und Alternativen hilfreich sein. Sie können die eigene Meinung ergänzen, korrigieren, differenzieren und besser begründen helfen; sie sind sowohl für jeden einzelnen Lehrer als auch für eine Schule im Ganzen nützlich.
  • Konsens darüber, dass die Lehrer einer jeden Schule ihr Verständnis über sie klären, deren pädagogischen Schwerpunkte und die Form der Gestaltung des Schulgeschehens finden müssen. Dies sollte im Hinblick auf das von ihr zu realisierende Bildungsangebot geschehen und dabei (sollten) die sozio-kulturellen Gegebenheiten ihres Umfeldes, ihre bisherige Tradition und Entwicklung wie auch ihre jeweiligen schulinternen Bedingungen berücksichtigt werden.
  • Verständigung darüber, dass eine jede Schule, wenn neue Aufgaben an sie herangetragen werden, wie das zum Beispiel auf Grund der Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen in der Regel der Fall ist, ihre Ziele immer wieder neu absteckt und Konsens über sie herbeiführt.
  • Anerkennung der Tatsache, dass Schüler und Eltern notwendig andere Erwartungen an die Schule haben und sie anders als Lehrer sehen, weil sie in anderer Weise von ihr betroffen sind. Dem sollte insbesondere bei der Erörterung von Schulschwierigkeiten und -problemen Rechnung getragen werden.
  • Schüler und Eltern sind als Personen und Partner Ernst zu nehmen. Eltern haben ihre eigene Art der Verantwortung, ihre Kompetenzen und Erfahrungen; die Schule kann von ihnen lernen, Lehrer können hierdurch ihren Blickwinkel erweitern und Schüler besser verstehen. Eltern gut zu informieren, ist unerlässlich, wenn mit ihnen gemeinsam Schulprobleme geklärt und behoben werden sollen. Eltern sind jedoch weder "Aufzuklärende" noch zu "Belehrende", sondern Partner im Erziehungsprozess.
  • Einvernehmen darüber, dass - obwohl jeder Lehrer seinen Unterricht selbst zu gestalten und zu realisieren hat - seine Tätigkeit kein isoliertes Vorhaben ist.
  • Die Unterrichts- und Erziehungsbemühungen jedes Lehrers sind in vielfältiger Weise mit denen ihrer Kolleginnen und Kollegen verbunden und sollten die elterliche Erziehung ergänzen und unterstützen. Von daher und um der Stimmigkeit von Bildung und Erziehung sowie ihrer Wirksamkeit willen ist pädagogischer Konsens gefordert und immer wieder neu herbeizuführen.
  • Einvernehmen darüber, dass Unterricht, der zentral für jede Schule und entscheidender Erfahrungsraum für Schüler ist, lebendiger Gestaltung bedarf und dass das "Schulleben" sich auf weitere Bereiche und Aktivitäten erstreckt. An diesen sollte jeder Lehrer auf Grund seiner fachlichen Kompetenz und pädagogischen Fähigkeiten und Kräfte mitwirken und somit für das Leben der Schule insgesamt Mitverantwortung tragen.
  • Anerkennung der Tatsache, dass jede Schule ihre spezifischen Probleme, potenziellen Spannungs- und Konfliktbereiche hat und dass diese wie auch deren stillschweigendes Übergehen den Boden für Unzufriedenheit liefern können. Daher ist es notwendig, diese Probleme, Spannungen und Konflikte zu erkennen und sie zu beheben suchen, um dem Aufkommen von Gleichgültigkeit, Bequemlichkeit und unguter Routine sowie von Praktiken des gegenseitigen Ausweichens und Sich-in-Ruhe-Lassens von vornherein zu wehren.
  • Übereinstimmung darin, dass für alle verbindliche Spielregeln darüber zu vereinbaren sind, wie Spannungen und Konflikte beizulegen sind."

Anmerkungen:

(1) Schein 1985; zit. n. Gebert, D. & Rosenstiel, L. v. (1992). Organisationspsychologie (3. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer, S. 297
(2) Aurin, K. (1995). Gemeinsam Schule machen. Schüler, Lehrer, Eltern - ist Konsens möglich? Stuttgart: Klett-Cotta, S. 164
(3) Aurin 1995, a.a.O.
(4) in enger Anlehnung an Aurin 1995, a.a.O., S. 118 ff.

Ulrich Barkholz, Georg Israel, Peter Paulus, Norbert Posse: Gesundheitsförderung in der Schule. Ein Handbuch für Lehrerinnen und Lehrer. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung, Soest 1997.