Die möglichen Belastungsfaktoren im Lehrberuf sind vielfältig. Ein Bündel dieser Faktoren resultiert aus dem widersprüchlichen Berufsbild der Lehrkräfte.
Das widersprüchliche Berufsbild
Die vier Kernprobleme der Lehrerinnen- und Lehrertätigkeit
- "Unterrichten ist eine einsame Tätigkeit; Lehrer/innen sind ganz überwiegend Einzelarbeiter, im Unterricht stehen sie allein vor der Klasse.
- Der soziale Status der Lehrer/innen ist im Vergleich mit anderen akademischen Professionen ambivalent, weil die Arbeit in der Schule nur als teilprofessionell gelten kann. Lehrer/innen verwalten sich - anders als Ärzte und Richter - nicht selbst, und ihre Fachkompetenz ist weniger anerkannt, ihr Expertenstatus nicht gesichert, weil sich auch alle Eltern in Erziehungsfragen kompetent fühlen.
- Der Erfolg der Arbeit ist unsicher und nur schwer zu messen. Vor allem die Erreichung anspruchsvoller Bildungsziele lässt sich kaum ermitteln bzw. zeigt sich erst nach der Schulzeit. Kurzfristige Erfolge sind zwar am Leistungsstand der Schüler/innen abzulesen, aber da es ja immer auch schlechte Noten geben muss, bleiben diese Erfolge begrenzt. Wir erkennen hier die grosse Bedeutung 'guter' Schüler/innen für die Zufriedenheit und psychische Gesamtverfassung der Lehrer/innen, stossen aber auch auf den Mechanismus der Erfolgsverminderung durch den Zwang der Notennormalverteilung.
- Die Arbeit der Lehrer/innen entzieht sich weit gehend der Routinisierung, weil die Schüler/innen, Klassen und Situationen ständig wechseln. Die Tätigkeit ist überkomplex, weil sie ein gleichzeitiges agieren auf drei Ebenen verlangt: Stoffvermittlung, Erziehung und Motivierung sowie Steuerung von Gruppenprozessen."(1)
Eine eingehendere Analyse zeigt, dass die Belastungen und Risiken aus zwei Quellen entstammen: (a) der Lehrperson selbst und/oder (b) dem System Schule.
Auf Seiten der Lehrperson
spielt als demographisches Merkmal das Lebensalter für das Erleben von Belastung eine Rolle. Die Ergebnisse hierzu sind allerdings uneinheitlich. Man kann z.B. nicht sagen, dass ältere Lehrkräfte generell mehr Belastungen erleben als jüngere. Gleiches gilt für die Berufserfahrung. Sie kann sich positiv auswirken, sie muss es aber nicht. Im positiven Fall stärkt sie das Selbstbewusstsein durch die vielfältigen Stressvorerfahrungen und durch die dabei erworbenen Bewältigungsmöglichkeiten. Im negativen Fall können sich stressvolle Berufserfahrungen und erlebte Inkompetenz in der Stressvermeidung bzw.- -bewältigung, gepaart mit ungünstigen Attributionsstilen (s.u.) und geringer internaler Kontrollüberzeugung (s.u.) in emotionaler Labilität niederschlagen bzw. eine solche, bei Berufseintritt schon vorhandene Disposition, noch verstärken.
Eindeutiger sind die Ergebnisse zur Phase des Berufseinstiegs. Sie wird als eine Zeit besonders intensiver Belastung erlebt.
Auch das Geschlecht spielt eine Rolle. Durch ihre Doppelbelastung scheinen verheiratete Lehrerinnen stärker als ihre männlichen Kollegen belastet zu sein. Ihre Doppelbelastung könnte der Grund sein.(2)
Von den Persönlichkeitsmerkmalen im engeren Sinne ist die "Kontrollüberzeugung" bedeutsam: Lehrer/innen, die überzeugt sind, ihr Leben selbst bestimmen zu können, es im "Griff" zu haben (sog. "internale Kontrollüberzeugung"), fühlen sich geringer belastet als solche, die sich den Gegebenheiten ausgeliefert fühlen (sog. "externale Kontrollüberzeugung").
Ebenso sind "Attributionsstile" von Bedeutung. Sie beschreiben, wie Lehrpersonen sich gewöhnlich Ergebnisse ihres Handeln erklären: Neigen sie z.B. in Fällen von Misserfolg dazu, sich selbst dafür verantwortlich zu machen oder sehen sie eher die Ursachen in äusseren Umständen? Ungünstige Attributionsmuster liegen dann vor, wenn die Person dazu tendiert, Misserfolge allein sich selbst zuzuschreiben und dabei auch noch stabile Persönlichkeitsmerkmale bei sich dafür verantwortlich zu machen (z.B. Unfähigkeit), statt auch einmal Unkonzentriertheit, Müdigkeit etc. als Ursachen mit zu bedenken; Persönliche Merkmale also, die variabel sind. Günstige Attributionsmuster sind auch solche, die bei Misserfolg externe Faktoren mit heranziehen (z.B. Pech oder ungünstige Umstände wie schwierige Klasse, große Schülerzahl in der Klasse, ungünstiger Stundenplan).
Auf Seiten des Systems Schule
lassen sich die wichtigsten Belastungsfaktoren den drei Subsystemebenen der Schule zuordnen. Es sind dies
- das kulturell-politische,
- das strukturell-soziale und
- das technisch-instrumentelle
Subsystem des Systems Schule.
Die folgende Übersicht fasst sie kurz zusammen:
Wichtige Belastungsfaktoren im kulturell-politischen Subsystems der Schule (Identität und Strategie):
- mangelnde Identität mit der eigenen Schule
- mangelnde gemeinsame Schulphilosophie
- abnehmendes Prestige des Lehrer/innenberufs
- Sackgassenberuf
- kaum Aufstiegsmöglichkeiten
- ständiger Innovationsdruck
Wichtige Belastungsfaktoren im strukturell-sozialen Subsystems der Schule (Aufbaustruktur; Menschen, Beziehungen; Organe, Funktionen):
- mangelnde Kooperation
- Isolation innerhalb des Lehrkörpers
- kein fachlicher und pädagogischer Austausch
- mangelnde Offenlegung von Problemen
- Konflikte im Kollegium
- fehlende Unterstützung durch die Schulleitung
- widersprüchliche und diffuse Rollenansprüche (differierende Erwartungen von Eltern, Kolleginnen/en, Schülerinnen/en, Vorgesetzten, Behörden etc.)
Wichtige Belastungsfaktoren im technisch-instrumentellen Subsystem der Schule (Arbeitsaufgaben; schulorganisatorische Bedingungen, schulhygienische Bedingungen):
Motivationsprobleme, Disziplinprobleme, Desinteresse der Schülerinnen und Schüler
- Leistungsbeurteilung, Notengebung und Selektion
- administrative und bürokratische Aufgaben
- ausserunterrichtliche bzw. ausserplanmässige Tätigkeiten
- unklare und anspruchsvolle Lehrziele
- Mängel in der Organisation des Lehrplans
- Stofffülle, Leistungsdruck
- Fehlen von Unterrichtshilfen
- Klassengröße (mehr als 27 Schülerinnen und Schüler)
- heterogene Zusammensetzung der Klassen
- Schultyp (s. auch die folgende Abb. 9)
- physische Belastung
- Sprechbelastung
- Lärmbelastung
Zur Illustration sind einige der genannten Belastungsfaktoren in der nachfolgenden Abb. 9 in ihrer erlebten Ausprägung von Lehrkräften unterschiedlicher Schultypen aufgelistet.
Abb. 9: Ausprägung von Belastungsfaktoren nach Schultyp (3)
Belastungsfaktoren im Durchschnitt der Nennungen nach Schultyp (N = 1214 Lehrpersonen; 1 = sehr stark; 5 = gar nicht)
Grund- und Hauptschule: - - - - - - - - -
Realschule: ...............
Gymnasium: -------------
Auch aus der spezifischen Perspektive der Arbeitsaufgaben der Lehrkraft lässt sich ein Belastungsprofil erstellen. Diese Arbeitsaufgaben stellen sich bei näherer Betrachtung als sehr komplex und fassettenreich heraus. Rudow(4) führt in einer Übersicht z. B. 55 "Teiltätigkeiten des Lehrers" auf, die sich auf die Tätigkeitsbereiche (a) Unterrichtsvorbereitung, (b) Unterrichtsvollzug, (c) Unterrichtsnachbereitung, (d) ausserunterrichtliche Tätigkeit und (e) (berufsbedingte) gesellschaftliche Tätigkeit verteilen. Diese Tätigkeiten sind in der Regel Mehrfachtätigkeiten und erfordern deshalb eine zusätzliche psychische Regulation wie Koordination, Planung, Aufmerksamkeitsverteilung und Zeitkontrolle.
Diese Tätigkeiten können tätigkeitsbereichsbezogen oder auch in der Kumulation von den Lehrkräften als Belastung erlebt werden. Als schwierig, unangenehm oder belastend werden häufig folgende Tätigkeitskomplexe genannt:
- Analysieren, Kontrollieren und Bewerten von Schülerverhalten und -leistungen (z.B. vor allem bei Disziplinproblemen und schlechten Leistungen)
- Besondere ausserunterrichtliche bzw. ausserplanmässige Tätigkeiten (z.B. Pausen- und Aufsichtstätigkeit, kurzfristige Übernahme von Vertretungsstunden, Gespräche mit Eltern bzw. anderen Erziehungsverantwortlichen)
- Organisatorische und verwaltungstechnische Tätigkeiten (z.B. Anfertigen von Plänen und Berichten zur Bildungs- und Erziehungsarbeit)
Was Lehrkräfte beruflich belastet
Ulich(5), der mit 20 Lehrkräften verschiedener Schultypen und unterschiedlicher Berufserfahrung Interviews zu ihren beruflichen Belastungen und Schwierigkeiten durchführte, stellt die folgende Rangreihe zusammen:
- Leistungs- und Verhaltensprobleme der Schüler/innen
- Korrekturarbeiten und Notengebung
- Erwartungen und Ansprüche der Eltern
- Klassenstärke (in Verbindung mit 1)
- Verwaltungsarbeiten
- Mangelnde Unterstützung und Konflikte mit Kollegien
Wie Lehrkräfte mit Belastungen umgehen
Was Lehrkräfte tun, um mit ihren beruflichen Belastungen fertig zu werden, ist noch nicht genügend erforscht. Aber einige Untersuchungen geben einen Einblick. Blase (1986) fand z.B. heraus, dass Lehrkräfte in kritischen Belastungssituationen überwiegend mit
- Ärger, Frustration und Irritation,
- Depression (bzw. Hilflosigkeit),
- Angst (Antizipation negativer Konsequenzen des eigenen Verhaltens),
- Beeinträchtigungen des Selbstwertgefühls (Erleben persönlicher Blamage, Schuldzuschreibung der eigenen Person) und
- physischen Symptomen (Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit) reagieren. (6)
Weiterhin gibt es Anhaltspunkte dafür, dass sie vielfach dazu neigen, sich Ersatzbefriedigungen zu verschaffen und erst danach, mit einigem Abstand, sich um aktive Problembewältigung bemühen. In einer Untersuchung an 152 Lehrkräften der Sekundarstufe I in Freibourg und Luzern (Schweiz) bestätigt sich diese Tendenz. Darüber hinaus differenziert diese Untersuchung auch die bisherigen Ergebnisse (s. Abb. 10).
Abb. 10: Stressverarbeitungs-Strategien von Lehrkräften(7) (T-Werte)
N = 152 ; 24% Lehrerinnen, 76% Lehrer aus Freibourg und Luzern (Schweiz)
Diese Strategien wurden mit dem Stressverarbeitungs-Fragebogen(8) erfasst. Im Vergleich zur Eichstichprobe des Fragebogens zeigen die untersuchten Lehrerinnen und Lehrer keinerlei Besonderheiten. Alle ihre Werte liegen im mittleren Bereich. Wie aus der Abbildung aber zu ersehen ist, gibt es einige Akzente: So neigen die Lehrkräfte im Mittel dazu, die belastenden beruflichen Situationen ernster zu nehmen als vergleichbare Erwachsene. Sie nehmen diese Umstände auch eher resignativ hin, beschäftigen sich mit ihnen gedanklich weiter, kapseln sich etwas mehr sozial ab oder lenken sich ab. Sie suchen auch tendenziell mehr nach Ersatzbefriedigung und sozialer Unterstützung. Sie werden in ihrem Bewältigungsverhalten auch aggressiver, versuchen aber weniger, durch positive Selbstinstruktion und Kontrolle ihrer eigenen Reaktionen und der belastenden Situation, sich konstruktiv Entlastung zu verschaffen.
Dies sind Mittelwerte. Einzelne Lehrkräfte bewältigen ihre beruflichen Belastungen zum Teil sehr unterschiedlich. Eine "gute" bzw. "schlechte" Stressverarbeitung hängt mit einer Vielzahl von Persönlichkeitsmerkmalen zusammen, wobei oft unentschieden ist, ob sie Ursache oder Folge der jeweiligen Form der Stressbewältigung sind. Nach den vorliegenden Kenntnissen(9) haben aber Lehrkräfte, die ihre eigene Belastungsverarbeitung günstig einschätzen, z. B. weniger Angst, weniger psychosomatische Beschwerden, ein besseres Selbstkonzept und sind psychisch gesünder. Sie empfinden weniger Berufsbelastung, sind mit ihrem Beruf zufriedener, haben eine bessere Professionalität und eine höhere Lebenszufriedenheit
Welche Form der Belastungsverarbeitung Lehrkräfte wählen, hängt wiederum von einer Vielzahl von Faktoren ab, nicht zuletzt davon, ob sie überhaupt etwas als eine Belastung empfinden. Die nachfolgende Übersicht soll helfen, einen Überblick zu gewinnen. Sie macht deutlich, dass es viele Faktoren gibt, die eine Rolle spielen. Damit werden aber auch viele Einflussmöglichkeiten sichtbar, die für einen verbesserten Umgang mit der beruflichen Belastung genutzt werden können.
Zum Verständnis des Umgangs mit Belastungen eignet sich das allgemeine "Anforderungs-Ressourcen-Modell". Es ist ausgehend von den Überlegungen des amerikanischen Psychologen Richard Lazarus(10) von verschiedenen Autoren weiterentwickelt und auch auf die spezielle berufliche Situation der Lehrkräfte zugeschnitten worden ist .
Im Folgenden wird es in der Version von Rudow(11) vorgestellt. Nach diesem Modell werden berufliche Anforderungen von den Lehrkräften entweder als irrelevant, angenehm oder als stressrelevant eingeschätzt. Als stressrelevant werden sie beurteilt, wenn sie
- mit einer Schädigung oder Verlust persönlich bedeutsamer Menschen, Objekten, Gegebenheiten verbunden sind.
- als physische und/oder psychische Bedrohung der Person erlebt werden
- als Herausforderung von der Person empfunden werden, die zwar die eignen Handlungsmöglichkeiten (geringfügig) überschreiten mögen, aber als Anregung zur Auseinandersetzung aufgefasst werden.
Ob tatsächlich "Stress" bzw. "Stressreaktionen" auftreten und welche es sein werden, hängt von mehreren Faktoren ab in einem Modell miteinander in Beziehung gesetzt sind.
Stressmodell der Lehrerinnen- und Lehrertätigkeit (13)
Die einzelnen Schritte der Bewältigung
- Es gibt Arbeitsanforderungen, die von der Lehrkraft als solche wahrgenommen werden.
- Die Arbeitsanforderungen werden von der Lehrkraft bewertet ("Primäre Bewertung"). Wenn die Bewertung eine reale oder potenzielle Gefährdung tätigkeitsbestimmender Bedürfnisse oder Motive (z.B. Bedrohung des Selbstwertgefühls, des Wohlbefindens, der Gesundheit etc.) ergibt, ...
- ...dann wird die zunächst indifferente Anforderung zu einer Belastung bzw. zu einem Stressor für die Lehrperson.
Beispiel: Disziplinverstöße der Klasse werden als Kränkung empfunden. - Der Stressor (z.B. die undisziplinierte Klasse) wird danach eingeschätzt, welche (individuellen und Umwelt-) Ressourcen der Lehrkraft zu seiner Bewältigung zur Verfügung stehen ("Sekundäre Bewertung").
Beispiel: Die Lehrkraft klärt für sich: "Habe ich genügend Kompetenzen und Kraft, um mit dieser Klasse fertig zu werden?"; "Kann ich mit den Eltern konstruktiv über das Verhalten ihrer Kinder sprechen und sie zur Unterstützung gewinnen?" - Auf der Grundlage dieser Einschätzung folgt dann die Auseinandersetzung mit der stresshaften Situation. Ist sie erfolgreich, dann treten keine Stressreaktionen auf.
- Die Auseinandersetzung hat auch Rückwirkung auf die primäre Bewertung und kann zu einer Neubewertung führen.
Beispiel: Die Lehrkraft ärgert sich zwar über die augenblicklichen Disziplinverstösse, sagt sich aber: "Was soll´s, die Mitarbeit der Klasse ist doch gut". - Ist der Bewältigungsversuch hingegen nicht oder nur teilweise erfolgreich, dann können Stressreaktionen auf der Erlebens- und /oder Verhaltens- und/oder psychobiologischen Regulationsebene der Lehrkraft auftreten.
Beispiel: Die Lehrkraft kann Wut, Enttäuschung empfinden, körperliche Anspannung und Unruhe verspüren, sich unwohl fühlen, Angst erleben etc. - Auch der erlebte Stress kann die Bewertung der Arbeitsbelastung verändern.
Beispiel: Anhaltende Disziplinverstöße "nerven" die Lehrkraft immer mehr. - Die Stressreaktionen signalisieren die nur teilweise Bewältigung. Es erfolgt wieder eine Bewertung der Bewältigungsressourcen, es erfolgt erneut ein Bewältigungsversuch. Sollte die Bewältigung wieder ineffizient sein, wird die Stressreaktion anhalten.
- Mehrere mehr oder weniger erfolglose Versuche führen zu chronischem Stress. Er wirkt sich, wie das aktuelle Stresserleben auch auf allen Regulationsebenen der Lehrperson aus.
Ulrich Barkholz, Georg Israel, Peter Paulus, Norbert Posse: Gesundheitsförderung in der Schule. - Ein Handbuch für Lehrerinnen und Lehrer. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung, Soest 1997.