Leitbild bzw. Vision des von uns entwickelten Konzeptes betrieblichen Gesundheitsmanagements ist die "gesunde Organisation". Damit liegt der Schwerpunkt nicht beim Verhalten der Beschäftigten, im Falle der Schule also bei dem der Lehrerinnen und Lehrer und auch nicht bei dem der Schüler. Der Schwerpunkt liegt bei den Strukturen und Prozessen der Schulorganisation, bei den jeweiligen Rollen, bei den gelebten Werten und Spielregeln, bei der Aufbau- und Ablauforganisation, bei Design und Verknüpfung der Kernprozesse und bei ihrer Unterstützung durch Führungsleistungen.

Kausalitätsannahmen und Interventionsmöglichkeiten betrieblichen Gesundheitsmanagements

Arbeitsorganisation

  •     Führungsverhalten
  •     Hierarchie
  •     Prozessorganisation
  •     Organisationskultur
  •     Transparenz der Entscheidungen
  •     Grad der Arbeitsteilung/Spezialisierung
  •     Weiterbildungsmöglichkeiten

Arbeitsbedingungen

  •     Handlungsspielräume
  •     Zeitdruck
  •     Soziale Beziehungen
  •     Komplexität der Arbeitsinhalte
  •     Verantwortung
  •     Arbeitsunterbrechungen
  •     Rotationsmöglichkeiten

Gesundheit

  •     Angst/Depressivität
  •     Selbstwertgefühl
  •     Selbstvertrauen
  •     physisches Befinden
  •     Arbeitsmotivation
  •     Identifikation mit Arbeit und Organisation
  •     Soziale Kompetenz/ Führungskompetenz

Arbeitsverhalten

  •     Anwesenheitsquote
  •     Fluktuation
  •     Innovationsbereitschaft
  •     Genussmittelkonsum
  •     Umfang und Qualität der Arbeit
  •     Kooperationsbereitschaft
  •     Umfang und Qualität der Verbesserungsvorschläge

Das heute im betrieblichen Gesundheitsmanagement bereitgestellte Wissen ist über lange Zeit innerhalb wenig verbundener Wissenschaftstraditionen entstanden: innerhalb der Biomedizin, der Verhaltensmedizin und der modernen Soziopsychosomatik. Im Zentrum der biomedizinischen Tradition steht die Erforschung pathogener Vorgänge im menschlichen Organismus. Als Ursache dafür werden genetische Defekte oder den Organismus schädigende biologische, chemische oder physische Umwelteinflüsse angesehen. Die klinische Forschung folgt diesem Ansatz. Die moderne Medizin kann deshalb mit Krankheit sehr viel, mit Gesundheit kaum etwas anfangen. Im Zentrum steht die Entwicklung und Prüfung hochtechnisierter Verfahren zur Diagnose und Therapie einzelner Krankheiten.

Davon unterscheidet sich der Ansatz der Verhaltensmedizin. Als Antwort auf das gewandelte Krankheitspanorama stehen hier überwiegend selbstschädigende Verhaltensweisen im Vordergrund. Rauchen, Fehlernährung, Bewegungsarmut, aber auch Alkohol- und Drogenkonsum gelten diesem Ansatz zufolge als Hauptursachen vermeidbarer Krankheiten und vorzeitigen Todes. Verhaltensmedizin und Psychologie, die sich diesem Denken verschrieben haben, sehen den Menschen nicht mehr nur als Maschine, die naturwissenschaftlichen Gesetzen folgt, sondern als vernunftbegabtes, in seinem Verhalten jedoch fehlgeleitetes bzw. unangepasstes Wesen.

Biomedizin und Verhaltensmedizin gemeinsam ist die individuenbezogene Vorgehensweise in Prävention und Therapie. Angesetzt wird bei dem Einzelnen und seinem oder ihrem Verhalten, nicht bei den Lebens- und Arbeitsbedingungen. Hier liegt der zentrale Unterschied zur gesundheitswissenschaftlichen zugleich populations- und systembezogenen Betrachtungsweise.

In Theorie und Praxis der Gesundheitswissenschaften ist das verhaltensmedizinische Paradigma dabei, Eingang zu finden in eine sehr viel breitere soziopsychosomatische Betrachtungsweise. Das Hauptinteresse richtet sich hier auf den Zusammenhang zwischen sozialen, psychischen und somatischen Prozessen. Die Frage nach den krank machenden Einflüssen bleibt wichtig und bedeutsam. Im Zentrum stehen jedoch salutogene, also gesundheitsförderliche Potentiale. Insbesondere Sozialepidemiologie, Stressforschung und Psychophysiologie haben die Grundlagen der modernen Soziopsychosomatik gelegt.
Die Gesundheit der Menschen kann aus soziopsychosomatischer Sicht sowohl als Voraussetzung wie auch als Ergebnis der Wechselwirkungen zwischen Person, Verhalten und Umwelt begriffen werden. Im Kern geht es um ein Verständnis salutogener Situationsbewältigung, genauer um Verständnis und Erschiessung gesundheitsförderlicher Potentiale in der Person, in ihrer Umwelt und in ihrem Verhalten.

Insbesondere Stressforschung und Sozialepidemiologie legen ein neues Gesundheitsverständnis nahe, in dem Gesundheit als Ergebnis einer kontinuierlichen Auseinandersetzung zwischen Mensch und Umwelt begriffen wird. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung wird keinesfalls nur von Risiken und Herausforderungen bestimmt, mit denen Menschen im Verlauf ihrer Biographie konfrontiert werden, sondern ebenso auch von ihren biologischen, psychischen und sozialen Gesundheitspotentialen. Daraus folgt ein Verständnis von Gesundheit als Kompetenz oder Befähigung zu einer aktiven Lebensbewältigung. Gesundheit ist in diesem Verständnis etwas, das erlernt werden kann, d.h. wozu Menschen auch qualifiziert werden können.

Definition "Gesundheit"

Gesundheit ist - so unser Definitionsvorschlag - eine Fähigkeit zur Problemlösung und Gefühlsregulierung, durch die ein positives seelisches und körperliches Befinden - insbesondere ein positives Selbstwertgefühl - und ein unterstützendes Netzwerk sozialer Beziehungen erhalten oder wieder hergestellt wird.

Eine solche Neudefinition des Gesundheitsbegriffs verweist auf eine Fähigkeit, die für die produktive Auseinandersetzung mit einer ungewissen, als Herausforderung oder Bedrohung empfundenen Umwelt immer wichtiger wird.

Mit diesem neuen Gesundheitsverständnis eng verbunden ist auch ein neues Verständnis von Krankheit.

Definition "Krankheit"

Krankheit ist mehr als nur körperliche Fehlfunktion oder Schädigung. Auch beschädigte Identität oder länger anhaltende negative Gefühle der Angst oder Hilflosigkeit müssen wegen ihrer ungünstigen Rückwirkungen für Denken und Handeln und wegen ihrer potentiell pathogenen Konsequenzen für das Immun- und das Herz-Kreislauf-System als Krankheitssymptom begriffen werden.

Wir gehen heute davon aus, dass belastende Lebensbedingungen oder Ereignisse nur dann krankheitsauslösende Folgen haben können, wenn sie als Bedrohung, Kränkung oder Verlust erfahren werden. Wir folgen damit dem Postulat der subjektiven Interpretation. Der Mensch wird als ein deutendes, fühlendes und planendes Wesen begriffen, dessen Befinden von der erfolgreichen Bewältigung sinnstiftender Tätigkeiten und von der Aufmerksamkeit, Zuneigung und Anerkennung durch Mitmenschen abhängt. Denken und Fühlen sind zentral für Gesundheit und Krankheit. Unsere kognitive und emotionale Situationsbewältigung verläuft zugleich parallel und hochvernetzt.

Auswirkung von Stress auf den Organismus

Ausreichende Bildung, angemessene fachliche, emotionale und soziale Kompetenz und Motivation gelten als die wichtigsten persönlichen Gesundheitspotentiale, ebenso wie ein positives Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen und eine optimistische Grundeinstellung. Neben Familie und Arbeitswelt bilden auch Medien und natürlich das Bildungswesen wichtige Sozialisationsinstanzen, die danach zu befragen sind, wieweit sie zur Entwicklung und Stabilisierung dieser persönlichen Gesundheitspotentiale beitragen oder aber zu ihrer Destabilisierung und Deformation. Gefühlsbildung, Bindungsfähigkeit und soziale Kompetenz werden heute leider immer noch all zu oft vernachlässigt zugunsten einseitig kognitiver und fachlicher Bildung.

Als soziale Gesundheitspotentiale von allergrößter Bedeutung gelten die bindenden Kräfte sozialer Beziehungen und sinnstiftender Überzeugungen und Werte und die von ihnen ausgehenden Einflüsse auf Kognition, Emotion, Motivation und Verhalten. Der gesundheitsförderliche Einfluss sozialer Beziehungen darf als einer der gesundheitswissenschaftlich am besten belegten Zusammenhänge gelten. Gleichwohl wissen wir, dass soziale Beziehungen nicht nur gesundheitsförderliche, sondern auch höchst destruktive Folgen haben können.

Besonders auffällig ist die Konflikthaftigkeit und Instabilität zwischenmenschlicher Beziehungen in der Arbeitswelt und zwischen den Geschlechtern. Hierfür stehen die Stichworte "hohe Scheidungsraten" und "Mobbing". Erzwungene Isolation und soziale Ausgrenzung müssen nach allem, was wir heute darüber wissen, als Risikofaktoren erster Ordnung gelten. In der Stressforschung stehen heute längst nicht mehr nur die Lokalisierung einzelner Stressoren im Vordergrund, sondern die zu ihrer Bewältigung aktivierten persönlichen Fähigkeiten. Im Kern geht es um ein Verständnis gesundheitsförderlicher Situationsbewältigung, d. h. um die Erschiessung gesundheitsförderlicher Potentiale bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der unmittelbaren Arbeitsumwelt und der gesamten Organisation. Das Arbeitsverhalten muss dabei als ein ganzheitlich zu begreifendes, gleichermassen physisches, psychisches und soziales Geschehen begriffen werden.

Sozialpsychologisches Grundmodell
(nach Bandura)

Betriebliche Gesundheitsförderung - Ziele:

  • Förderung persönlicher Gesundheitspotentiale (z. B. fachlicher, sozialer, gesundheitlicher Kompetenz, positiven Selbstwertgefühls)
  • Förderung sozialer Gesundheitspotentiale (z. B. eines positiven Betriebsklimas, gegenseitiger Unterstützung, produktiver Konfliktbewältigung)
  • Förderung organisatorischer Gesundheitspotentiale (z. B. Kultur des Vertrauens, Transparenz von Entscheidungen, Partizipationsmöglichkeiten, Handlungsspielräume, Identifikation mit Unternehmen)

Organisation und Gesundheit

Organisation
Pathogene Merkmale - "Ungesunde Organisation "

  • Autoritärer Führungsstil
  • Steile Hierarchie
  • Misstrauenskultur
  • Intransparenz von Entscheidungen
  • Geringe Handlungs- und Mitwirkungsspielräume
  • Hohe Arbeitsteilung, Spezialisierung
  • Hochfragmentierte Arbeitsabläufe
  • Keine/unzureichende Weiterbildungsmöglichkeiten

Salutogene Merkmale - Gesunde" Organisation

  • Partizipativer Führungsstil
  • Flache Hierarchie· Vertrauenskultur
  • Transparenz von Entscheidungen
  • Prozessorientierte Arbeitsorganisation
  • Teamarbeit
  • Weiterbildungsmöglichkeiten
  • Institutionalisierte Gesundheitsförderung

Person
Pathogene Merkmale - "Ungesunde" Organisation

  • Verbreitete Hilflosigkeit-/Angstgefühle
  • Niedriges Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
  • Geringe Arbeitszufriedenheit
  • Geringe Motivation
  • Innere Kündigung
  • Soziale Kompetenz wenig ausgeprägt und verbreitet
  • Management-Kompetenz wenig ausgeprägt und verbreitet
  • Schlechte körperliche Gesundheit

Salutogene Merkmale - "Gesunde" Organisation

  • Psychosoziales Wohlbefinden (wenig Angst/Hilflosigkeit)
  • Hohes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
  • Hohe Arbeitszufriedenheit
  • Hohe Motivation
  • Hohe Bindung an Unternehmen
  • Soziale Kompetenz stark ausgeprägt und verbreitet
  • Management-Kompetenz stark ausgeprägt und verbreitet
  • Gute körperliche Gesundheit

Verhalten

Pathogene Merkmale - "Ungesunde" Organisation

  • Absentismus hoch· Hohe Fluktuation
  • Geringe Flexibilität, Innovationsbereitschaft
  • Individuelles Konkurrenzstreben
  • Hoher Genussmittelkonsum (Rauchen etc.)
  • Riskanter Lebensstil (Ernährung, Bewegung etc.)

Salutogene Merkmale - "Gesunde" Organisation

  • Hohe Anwesenheitsquote
  • Niedrige Fluktuation
  • Hohe Flexibilität und Innovationsbereitschaft
  • Gegenseitige Unterstützung
  • Geringer Genussmittelkonsum
  • Gesundheitsförderlicher Lebensstil (Ernährung, Bewegung etc.)

Von besonderem Interesse erscheint mir für die zukünftige Forschung und Praxis der Zusammenhang von Arbeit, Gesundheit und Dienstleistungsqualität. Das Bildungswesen ist heute, neben dem Gesundheitswesen, der größte Dienstleistungssektor unserer Gesellschaft. Hier ist der Erfolg des eigenen Handelns besonders abhängig von der Arbeitsleistung anderer, bildet gelungene Kommunikation eine zentrale Voraussetzung für Teamzusammenhang und hohe Qualität der erbrachten Arbeitsleistungen. Kommunikation ist zudem das oft wichtigste Instrument bei der direkten Erstellung von Kernprozessen, also bei der Unterrichtung von Schülern oder der Behandlung von Patienten. Mehr als naheliegend und durch die "Burnout"-Forschung mittlerweile gut belegt ist die These, dass chronische Überforderung insbesondere die Qualität des zwischenmenschlichen Verhaltens beeinträchtigt. Eine von uns befragte Pflegekraft hat dies einmal auf die knappe Formel gebracht: "Stress frisst Kommunikation". Dauerbelastungen führen zu Konzentrationsmängeln und Vergesslichkeit und erhöhen dadurch das Risiko fehlerhaften Handelns. Stress und Erschöpfung können auch dazu beitragen, dass gegen die Regeln einer Organisation und die Werte einer Gesellschaft verstossen wird. Gezielte Maßnahmen der Gesundheitsförderung können die Belastbarkeit und die Zufriedenheit der Beschäftigten erhöhen, Risiken vermindern und dadurch zur Verbesserung der Servicequalität beitragen.

Wir sind im Rahmen einer Interventionsstudie in einem Krankenhaus der Maximalversorgung der Frage nachgegangen, wieweit Organisationsdiagnose unter Einsatz von Gesundheitszirkeln zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen beiträgt und damit indirekt auch zur Gesundheit der Beschäftigten und zu einem Mehr an patientenorientiertem Handeln. Bei der Organisationsdiagnose stießen wir u. a. auf den Sachverhalt, dass der Krankenhausführung bis dato keinerlei Informationen über die Fehlzeiten in den unterschiedlichen Kliniken und Abteilungen vorlagen, d. h., dass dieser wichtige Indikator für Risikobereiche einer Organisation bislang völlig ignoriert wurde. Wie wir bei späteren Recherchen feststellen konnten, scheint dies in den öffentlichen Einrichtungen hierzulande eher die Regel denn die Ausnahme zu sein. Die Studie haben wir vor fünf Jahren durchgeführt. Es mag sein, dass inzwischen hier eine gewisse Besserung eingetreten ist, ich bin aber nicht sicher. Eine Führung, die sich nicht für die Fehlzeiten der Beschäftigten interessiert, interessiert sich wenig für den Zusammenhang zwischen den Arbeitsbedingungen und Gesundheit und interessiert sich auch entsprechend wenig für hier bestehenden Handlungsbedarf.

Gesundheitszirkel sind eine Form der betrieblichen Kleingruppenarbeit. In 8 - 12 Sitzungen treffen sich Beschäftigte eines Unternehmens in regelmässigen Abständen von meist 2 Wochen, um über Belastungen am Arbeitsplatz und dadurch bedingte gesundheitliche Beschwerden zu sprechen. Geleitet werden diese Zirkel von geschulten Moderatorinnen und Moderatoren. Für die Zirkelarbeit selbst gelten bestimmte Spielregeln; eingesetzt werden bewährte Problemlösungsverfahren; die erarbeiteten Diagnosen und Lösungsvorschläge werden an die Führung oder - so vorhanden - dem Arbeitskreis Gesundheit zur Diskussion und Entscheidungsfindung weitergeleitet.