Leitbilder als Quelle von Stabilität und Änderungsresistenz
Nicht wenige Lehrer / innen zeigen in ihrer „theory in use" (= Verhaltensgewohnheiten) die kontinuierliche Absicht, ihre Schüler / innen sicher zum Lernziel führen zu wollen. Sie hören solche Forderungen von manchen Eltern, Erziehungsberechtigten, Schülerinnen und Schülern oder Kolleginnen und Kollegen und identifizieren sich nicht nur mit diesen Forderungen, sondern auch mit der Wertegemeinschaft, die sie aufgestellt hat. Das Leitbild eines „pädagogischen Bergführers durch gefährliches Gelände" steuert ihre Denk- und Handlungsgewohnheiten (= theory in use) und vermittelt ihnen die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit. Gleichzeitig verdeckt das Leitbild die Nebenwirkungen ihrer Handlungspraxis. Wer Lernende „sicher" zum Ziel führen will, fördert abhängiges Lernverhalten, auch wenn er eigenverantwortliches Lernen zum Ziel hat und überfordert sich selbst als pädagogischer Alleinunterhalter (vgl. Harth 2000). In Tateinheit damit verhindert ein solcher Pädagoge bzw. eine solche Pädagogin auch selbst gesteuertes Lernen der Schüler / innen und damit deren Vorbereitung auf lebenslanges Lernen. Die Reflexion über ungewollte Nebenwirkungen der praktizierten Theorie macht die problematische Funktion von Leitbildern deutlich. Nach dem Konzept der Stages of Change (vgl. Prohaska 2000) sowie dem Motivational Interviewing von Miller und Rollnick (2002) liegt genau in der Reflexion von Nebenwirkungen die Chance, die Ambivalenz von Leitbildern bewusst zu machen und deren Flexibilisierung zu ermöglichen. Doch was macht Leitbilder so änderungsresistent? Sie sind nach Moser (1996) kollektive Ideen bzw. Mythen des Wünschbaren. Sie werden von einer Wertegemeinschaft geteilt. Je nach ihrem Verbindlichkeitsgrad haben sie:
- motivierende Funktion: Die Lehrkraft bemüht sich, die Schüler / innen ausdauernd und sicher ans Ziel zu führen,
- rechtfertigende Funktion: Die Lehrkraft entscheidet, dass ein bestimmter Schüler wegen seiner beschränkten Lernvoraussetzungen von ihrer Lehrtätigkeit nicht mehr profitieren kann und deshalb zu einer Sonderschule überwiesen werden muss,
- demotivierende Funktion: Die Lehrkraft resigniert auf Dauer, weil einige Schüler/ innen ihre engagierte Lehrtätigkeit ins Leere laufen lassen.
Wenn man also Lehrkräfte zur Reform ihrer Leitbilder oder zu leitbildwidrigem Verhalten auffordert, mutet man ihnen einen herben Verzicht an Sinnhaftigkeit, Handlungssicherheit und auf den Gewinn „subjektiv vielfach bewährter" Leitbilder zu. Das führt nicht selten zu einem Änderungswiderstand aus Angst vor den vermuteten Folgen. Ein Spötter hat einmal Reformbereitschaft als Mut beschrieben, Verhältnisse mit bekannten Nachteilen durch Verhältnisse mit unbekannten Nachteilen zu ersetzen. Mit diesem Argument wehren sich viele gegen Veränderungen.
Wenn nun der angestrebte Wandel eine koordinierte Veränderung der Schüler- und der Lehrerrolle verlangt, dann ist mit gruppeninternen und mit wechselseitigen Änderungswiderständen zu rechnen. Denn schon unter den Lehrkräften gibt es manchen Richtungsstreit über geeignete Änderungsstrategien.
So sehen einige Lehrkräfte Maßnahmen zur Förderung der Lehrergesundheit durch verbessertes Zeit- bzw. Stressmanagement als wirksam für einen motivierenden Umgang mit Schülern und Schülerinnen an, während andere sich mehr davon versprechen, wenn man durch Einführung von Methoden kooperativen Lernens die Überverantwortung mancher Lehrkräfte reduzieren kann.
Diese Abbildung soll mögliche Wirkrichtungen sowie unmittelbare und mittelbare Effekte verschiedener Maßnahmen verdeutlichen. Es wird aufgezeigt,
- dass z. B. Entspannung einen unmittelbaren Effekt auf die Stressverarbeitung mancher Lehrkraft haben kann und erst sekundär auf deren Unterrichtsqualität wirken mag,
- dass die Nutzung von Internetberatung durch Lehrerforen sich auf Gesundheit und Unterrichtsqualität direkt auswirken kann und
- dass die Einführung von Kooperativem Lernen in einer Schulklasse wohl zunächst eine Steigerung der Unterrichtsqualität bewirkt und sich erst sekundär auf die Lehrergesundheit auswirkt.
Verlassen wir nun die Ebene der Spekulation und analysieren wir ein Beispiel für Schulen und Kollegien, die Reformbereitschaft nicht nur erwägen, sondern auch in Projekten realisieren. Von einem solchen Beispiel und den Gelingensbedingungen soll nun kurz die Rede sein.